Japan 2014

Bericht zur Reise 2014

von Karsten Hannes


“In Karate we are all brothers and sisters”


Die Dojo Bar und das Jundokan


Es gab viele eindrucksvolle Ereignisse auf unserer spannenden Reise. Abgesehen von der atemberaubenden pazifikparadiesischen Landschaft und den wundervollen Menschen welche die kleine Insel Okinawa bevölkern, waren es gerade die zufälligen Gelegenheiten wie die Folgenden welche ich nicht vergessen werde.

Auf Okinawa angekommen hatten wir mit einer Vielzahl an Eindrücken und kulturellen Besonderheiten zu kämpfen. Alles war irgendwie ein bisschen anders, aber vieles war auf eine schöne Art und Weise faszinierend.

Unser Ziel war es, hier am Geburtsort des Karate mehr über diese Kunst, aber auch über die Kultur, die Menschen und das Land vor Ort zu erfahren. Aber wie? Da steht man nun als Karateka auf der „Insel des Karate“ und ist erst einmal ratlos, wie man denn nun jemanden fragen sollte. Und wenn, wen überhaupt? Vor der Reise bin ich jedoch im Internet auf eine sehr interessante Tatsache gestoßen. Es gibt auf Okinawa nämlich eine ganz besondere Bar. Und diese Bar heißt, wie kann es auf einer Karateinsel auch anders sein, die „Dojo-Bar“. Tja, was soll ich sagen, das war natürlich genau der richtige Ort für wissens- und bierdurstige Karateka wie uns. Und wir wurden nicht enttäuscht. Die „Dojo-Bar“ ist eine Mischung aus einem Irish-Pub und einem traditionellen Karate Dojo. Das heißt man trinkt in urig gemütlicher Atmosphäre an einer Treibholztheke ein eisgekühltes Orion Bier (die lokale Biermarke Okinawas, sehr lecker) umgeben von Sandsack, Makiwara und einer Vielzahl von traditionellen, okinawanischen Kobudo-Waffen. Beobachtet wird man dabei von den vielen ehrwürdigen Meistern, welche mit strengen Augen aus ihren Wandbildern auf einen herabblicken. Man selbst kann, auf einem Flat Screen hinter der Theke, Karatevideos schauen. Die selbstgemachten Cocktails haben Namen wie: Itosus Fist, Kushanku, Wankan usw. Ein wahrhaft wundervoller Ort, wenn man Bier und Karate mag, so wie wir. Die Bar selbst wird von einem sehr sympathischen Engländer namens James Pankywitz geführt. James hat, wie er uns selbst berichtete, vor ca. 3 Jahren alle Zelte in England abgebrochen und ist nach Okinawa ausgewandert. Was ihn dazu bewegte? Ganz einfach. Die Liebe zum Karate! Aber warum ausgerechnet eine Bar? Seine Idee war es einen Platz auf Okinawa zu schaffen, an dem sich alle Karateka aus allen Ecken der Welt treffen können um Kontakte zu knüpfen, sich auszutauschen und natürlich an diesem einzigartigen Ort trainieren zu können. Und dass dieses Konzept voll aufgegangen ist, sieht man an den unzähligen Unterschriften, Zeichnungen und Grüßen, welche jeden freien Quadratzentimeter der Barwände zieren.

Wir verbrachten mehrere Abende in der Dojo-Bar zusammen mit James und seiner sehr charmanten Bardame. Am ersten Abend lud uns James ein, etwas ganz Besonderes zu trinken. Es handelte sich um eine Art Schnaps, der in einem durchsichtigen Krug auf der Theke stand. Eigentlich nichts Besonderes, abgesehen von der ca. 1 Meter langen Giftschlange, welche aufgerollt und mit weit geöffneten Maul in der Flüssigkeit auf dem Grund des Kruges hockte. „This is habu awamori! Very healthy and good for a strong tzuki”, pries James uns das Gebräu mit einem unübersehbaren diabolischen Grinsen an. Zur Info: Eine sogenannte Habu ist die giftigste Schlangenart Okinawas. Sie ist berühmt für ihre Aggressivität und daher nicht gerade sehr beliebt. Die Okinawaner machen also das Beste aus dieser Koexistenz, erschlagen die Viecher und legen sie in Awamori (eine Art Schnaps aus Reis, ähnlich wie Sake) ein. Wir wollten keine Soffteggs sein, also tranken wir. Wir bewiesen an dem Abend mehrmals unseren Mut und verewigten uns ebenfalls mit Unterschriften und unserem Dojo-Wappen an der Wand. Neben dem Schnaps brannte uns jedoch noch etwas ganz anderes auf

der Zunge. „James, ist es möglich hier irgendwo mit zu trainieren? Und wenn ja, hast du Kontakte zu einem der Meister und seinem Dojo?“, fragten wir ins Blaue. „Klar“, sagte James „Ich telefoniere mal ein bisschen rum und sage euch Bescheid. Kommt morgen Abend einfach vorbei, dann hab ich vielleicht was!“

Am nächsten Abend, nach einem Besuch im Shuri-Castle und einer Tour durch Naha-City, waren wir wie verabredet wieder in der Dojo-Bar. James hatte sein Versprechen gehalten. „Ich habe euch ein Training im Jundokan organisiert. Da wird Goju-Ryu trainiert. Meldet euch bei Kinjo Sensei und sagt James schickt euch.“ Nach einem geselligen Abend, einer hausgemachten Pizza und der ein oder anderen Kata in Form eines Cocktails, ging ich an dem Abend sehr zufrieden und ein wenig aufgeregt ins Bett. Endlich ist es soweit. Morgen werde ich also bei einem Meister in dessen Dojo auf Okinawa trainieren. Ich schlief sehr gut in dieser Nacht.

Am nächsten Tag mussten wir noch einen dringenden Einkauf erledigen. Wir waren zu Gast in einem fremden Dojo, in dem ein uns fremder Karate Stil trainiert wird. Daher wollten wir aus Respekt einen weißen Gürtel tragen. Also führte unser Weg als erstes ins „Shureido“. Ein Einkaufsparadies rund um Karate und Kobudo. Ja richtig, ein ganzer Laden voller hochwertiger Karate Bekleidung, Kobudo Waffen, Deko-Artikeln und alles was das Karate Herz höher schlagen lässt. Nicht vergessen, wir sind hier auf der Karate Insel! Jeder schnappte sich einen Weißgurt und weiter ging es zu der von James aufgeschriebenen Adresse. Und da standen wir nun davor. Das Jundokan.

Es stellte sich heraus, dass wir tatsächlich an einem historischen Ort und einem der berühmt berüchtigtsten Dojos Japans standen. Das Jundokan (wörtl: Halle zum Studium der väterlichen Fußspuren) wurde 1954 von Eiichi Miyazato (1922-1999) gegründet. Dieser war ein direkter Schüler von Miyagi Chojun (1888-1953) dem Begründer des Goju-Ryu Karate und wurde als sein offizieller Nachfolger ernannt. An diesem geschichtsträchtigen Ort wird daher ausschließlich traditionelles Goju-Ryu gelehrt. Ein okinawanischer Karate Stil der sehr nahkampfbetont ist und starke chinesische Einflüsse aus dem Kung Fu aufweist. Hier wird kein Sportkarate vermittelt. Das merkt man sofort. Karate ist hier Budo (Bu= Krieg/Kampf, Do= Weg also Weg des Krieges/Kampfes) und tief in der Kultur der Okinawaner verwurzelt.

Beim Betreten des Dojo hat man schon das Gefühl in die Geschichte einzutauchen. Ein traditioneller Ort voller Spiritualität. An den Wänden die Bilder der Meister aus den alten Tagen. An den urtümlichen Trainingsgeräten wie Makiwara (Schlagpfosten), Chichi (Steingewichte) und Nigiri Game (sandgefüllte Steinkrüge zum Grifftraining) ließen sich deutlich die Spuren von tausenden Stunden der Übung erkennen. Trainiert wird hier nicht im „line up“ Prinzip wie bei uns, sondern einzeln und individuell. Das heißt man kommt, trainiert für sich alleine oder in einer kleinen Gruppe und geht wieder. Und trainiert wird hier ernsthaft, mit voller Leidenschaft und Hingabe, was allein die Gesichtern der Karateka vor Ort erkennen ließen. In der Ecke stand jemand und stemmte mit nacktem Oberkörper Gewichte aus Stein in die Luft. Sein Körperbau verriet, dass er das schon öfter getan hat. Daneben schlug einer auf das Makiwara ein und drohte es in der Mitte durchzubrechen. Gegenüber übte sich jemand in Kata, während sein Kime die stickige Luft zerschnitt.

Nachdem wir uns umgezogen hatten und nun in unseren weißen Obis wieder das Dojo betraten, wurde einer der Meister auf uns aufmerksam. Er stellte sich als Sunagawa Hisao (6. Dan) vor. Er entschuldigte sich das Kinjo Sensei unpässlich wäre und bat uns mit ihm stattdessen Vorliebe zu nehmen. Sunagawa Sensei wollte wissen wo wir herkommen, welchen Karate Stil wir betreiben und wie lange schon. Es wurde darüber geredet wie nahe sich unsere beiden Stile stehen. Lukas musste

sogar die Tekki Shodan vorführen, da auf Okinawa diese Kata „Naihanchi“ heißt und sie ja quasi miteinander verwandt sind. Wir bekamen einen kurzen Über- und Einblick in das Goju-Ryu und unsere Fragen wurden alle sehr freigiebig beantwortet. Die Kommunikation erfolgte über simples Englisch und was im Karate ja sehr einfach ist, mit „Händen“ und „Füssen“. Alles andere waren ja sowieso die bekannten japanischen Begriffe.

Sunagawa Sensei begann nun mit dem Training. Und zwar im Okinawa Style. Das bedeutete wir begannen mit „Junbi Undo“ (vorbereitende Übung). Diese Übungen bestehen aus strikt überlieferten Bewegungs- und Lockerungsübungen, welche einer bestimmten Art der Atmung zu Grunde liegt. Als wir damit fertig waren wollte der Sensei wissen aus welchem Holz wir geschnitzt sind. Wir machten in abwechselnder Reihenfolge Liegestütze, Situps und Kniebeugen. Eine kurze Anmerkung hierzu: Okinawa ist eine subtropische Insel. Wir waren im Juni dort. Das bedeutet es herrschen morgens um 6 bereits 35 Grad Celsius und eine 80 prozentige Luftfeuchtigkeit. Sunagawa Sensei befand sich zu dieser Zeit in seinen mittleren Sechzigern. Und er machte alle Übungen mit! Alle! Und das schlimmste daran: Er lächelte dabei unentwegt! Ich weiß nicht wie lange wir diese Übungen machten. Ich hatte mehrere Nahtoterfahrungen währenddessen. Uns lief der Schweiß in Bächen aus dem Gi und die Muskeln schmerzten bis ins Unerträgliche. Keiner von uns gibt auf! Wir waren uns da einig, als wir uns zwischendurch in die verkniffenen Augen schauten. Und wir zogen durch bis die Übungen zu Ende waren. Inzwischen versammelten sich ein paar Zuschauer um uns, die mitleidig zusahen wie uns Sunagawa Sensei auf Okinawa Art willkommen hieß. Als die Übungen endeten stand er lächelnd vor uns und sagte mit erhobenem Daumen „Haaai, strong german guys!“

Nachdem wir nun wussten wo in Okinawa der Hammer hing und der Sensei wusste, dass er williges Material vor sich hatte, begannen wir mit Kihon. Techniken wie Oi Tzuki, Age Uke, Gedan Barrai, Mae Geri usw. sind unseren sehr ähnlich. Ich vergesse nie wie Sunagawa Sensei mich aufforderte ihn mit aller Kraft anzugreifen. Der Mann war doppelt so alt wie ich und ich war fast doppelt so groß wie er. Ich entschied mich ihn mit Oi Tzuki anzugreifen. Ohne dass er sich von seinem Platz bewegte, blockte er meinen Tzuki mit Te Osai Uke und der Handrücken seines Uraken Uchi stoppte einen Zentimeter vor meiner Nasenspitze. Ich hatte keine Chance. Er hätte mir locker den Arm gebrochen und gleichzeitig das Nasenbein zertrümmert. Und das schlimmste daran: Er lächelte dabei!

Nachdem wir uns mit einigen Eigenarten vertraut machten und der Sensei zufrieden mit unseren Ausführungen war, kamen wir zur ersten Kata, die Sanchin (3 Kriege). Diese Kata bildet die Atmung und die Körperspannung aus und ist Grundlage des ganzen Goju (Hart-Weich) Systems. Darauf folgte dann Gekisaidai Ichi (vergleichbar mit einer unserer Heian Kata). Wir übten diese 2 Kata immer und immer wieder bis zum Ende des Trainings. Zum Schluss wirkte Sunagawa Sensei sehr zufrieden mit uns und sagte uns wir sollten am folgenden Tag um die gleiche Uhrzeit wieder kommen. Nach dem Duschen fuhren wir zurück zu James und berichteten ihm von unseren Erlebnissen. Wir waren unter anderem sehr beindruckt wie bereitwillig man uns alles zeigte und erklärte und wie freundlich man uns begegnete. Und da sagte James etwas, was mir sehr gut gefiel und ich nicht vergessen habe. „In Okinawa we say, in Karate we are all brothers and sisters!” Was ein schöner und bedeutungsvoller Satz. Hier ist es nicht wichtig woher man kommt, welche Sprache man spricht, welchen Stil man trainiert oder welchen Gürtel man hat. Hier eint uns alle der gleiche Weg und macht uns zu Brüdern und Schwestern.

Am nächsten Tag waren wir wieder pünktlich im Jundokan und wurden von einem gut gelaunten Sunagawa Sensei begrüßt. Ich hatte Muskelkater an Stellen, die mir bis Dato völlig unbekannt waren.

Wir begannen wieder mit Junbi Undo. Die Kraftübungen fielen diesmal zu unserer Erleichterung etwas sparsamer aus. Danach folgte wieder das Kata Training. Wir schliffen weiter an dem Erlernten des Vortages. Es war ein sehr intensives Training und der Sensei achtete auf die kleinste Bewegung. Der Schweiß floss in Strömen und die Muskeln schmerzten, aber es machte unglaublichen Spaß in dieser Atmosphäre zu trainieren.

Dann geschah etwas Außergewöhnliches. Die Schiebetür wurde geöffnet und ein alter, drahtiger Mann betrat das Dojo. Alle Karateka unterbrachen das Training, drehten sich zu ihm um und verbeugten sich tief. Sunagawa Sensei und wir taten dies ebenfalls.

Der Mann durchquerte lächelnd (eine Gesichtshaltung welche auf Okinawa sehr verbreitet zu sein scheint) das Dojo und kam auf uns zu. Sunagawa Sensei stellte uns gegenseitig vor. Er sagte uns, dass es sich hier um seinen Sensei handele. Der Name dieses Mannes war Tetsunosuke Yasuda (10 Dan). Er war zum damaligen Zeitpunkt 88 Jahre alt! Nochmal zum Verständnis: Der Mann der uns seit zwei Tagen trainierte und das mit vollem Körpereinsatz war 60+. Und jetzt standen wir vor SEINEM Trainer, welcher mit seinen 88 Jahren gerade vor uns seinen Gi zusammenknotete und zu einer Runde Training bereit war! Bei fast 40 Grad und 80 Prozent Luftfeuchte!

Wir unterhielten uns während er sich umzog. Er war sehr erfreut, dass wir aus Deutschland kamen, da er einen Mercedes fahren würde und Deutschland sehr bewundere. Daher war er sehr erstaunt und fühlte sich sehr geehrt, dass vier Deutsche einen so langen Weg auf sich nehmen würden, um auf einer so kleinen und unbedeutenden Insel Karate trainieren zu wollen. Abgesehen von seiner Freundlichkeit und Bescheidenheit machte mich ebenfalls der folgende Anblick sprachlos. Während unseres weiteren Trainings trainierte Yasuda Sensei abseits unentwegt Situps. Mit einer Hantelscheibe vor seiner Brust! Ich dachte gleichzeitig an unsere europäischen Rentner gleichen Alters, welche es ohne einen Rollator möglichweise nicht einmal in die Nähe des Dojos geschafft hätten. Es war unglaublich, wie fit und gesund die Menschen hier waren.

Zum Schluss des Trainings gab es noch ein Foto mit allen vor der Bronzebüste von Miyagi Chojun, freundliche Worte und Wünsche zum Abschied. Wir wurden für unsere Arbeit gelobt und uns wurde versichert, dass wir immer herzlich Willkommen sein würden im Jundokan. Nachdem die obligatorischen Visitenkarten ausgetauscht und wir geduscht waren, verließen wir sehr glücklich und dankbar das Dojo. Uns allen war klar, dass wir diese Erfahrung niemals vergessen würden.

Was mir immer in Erinnerung bleiben wird ist die Freundlichkeit und Bescheidenheit der Menschen, welche uns auf unserer Reise begegnet sind. James, der mit seiner Dojo-Bar einen unbezahlbaren Beitrag für die Karate Welt schafft und natürlich die Karateka des Jundokan. Jeder ein Meister seiner Art, aber Vorbilder in Sachen Bescheidenheit, Disziplin und freundlicher Offenheit.

Hier ist der wahre Geist des Karate überall zu spüren. Es ist fester Bestandteil der Kultur und es war mir eine große Freude ein Teil davon sein zu dürfen.

„In Karate we are all brothers and sister!“


Karsten Hannes


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